Die Legende, welche sich vor langer Zeit zugetragen hat, erzählt von Unterdrückung, Rebellion und Freiheit: In tiefster Nacht treffen sich Werner Stauffacher von Schwyz, Walter Fürst aus Uri und der Unterwaldner Arnold von Melchtal «an einem Ende, das heisst im Rütli», so steht es im weissen Buch von Sarnen geschrieben. Mit einem Eid versprechen sie, gegen die Herrschaft der Habsburger Vögte gemeinsam einzustehen. Als Tell den Gessler mit der Armbrust niederstreckt, mündet der nächtliche Schwur in offenen Widerstand. Der Mythos der Eidgenossenschaft beginnt. Obwohl es keine historischen Beweise gibt, ist jener so stark, dass sich daraus ein Selbstverständnis gründet, welches die Schweiz bis heute prägt: Ein kleines Land inmitten der Grossen, reich an urchigem Brauchtum, verwurzelt in bergiger Landschaft. Für mich ist jene Welt eher fremd. Aus diesem Grund habe ich mich mit einem Mann verabredet, dessen Musik von «Örgeli-Liäbi» berichtet, vom «Stanserhorn», dem «Schwingärkenig» und «Eysi Häimat». Gemeinsam werden wir in See stechen um Geschichte zu erleben: mit dem Dampfschiff an der Tellsplatte vorbei, hin zum sagenumwobenen Rütli. Ich und ein waschechter Eidgenoss.


Das isch nu Muisig
Seit 2011 ist Urs Fischer «dr Eidgenoss» und lebt mit seiner Musik Schweizer Tradition. Erst kürzlich ist er von einer Musikreise aus der Mongolei zurückgekehrt: «In der Ferne kennt man die Berge, Schokolade und Roger Federer. Für mich ist es ein Privileg, der Schweizer Volklore ein Gesicht zu geben. Der kulturelle Austausch, welcher dabei statt findet, schafft die Verbindung zwischen den Menschen.» Ich verstehe schnell, was mein Reisegefährte meint: Auf dem Schiff erwartet uns Freude und Heiterkeit. Ein Selfie da, ein aufmunterndes Wort dort. Viele kennen und schätzen den Mann in der Nidwaldner Tracht. Auch ich will ihn besser kennenlernen.
Eine Frage beschäftigt mich, seitdem ich meine Schweizer Geschichtskenntnisse aufgefrischt habe, besonders: Warum ein solch historischer Begriff als Künstlername: «dr Eidgenoss»? Schliesslich tritt er damit in die Fussstapfen keines Geringeren als Tell persönlich. Schallendes Lachen: «Als ich mich entschloss mein erstes Album zu veröffentlichen, suchte ich nach einem starken Namen. Beim Fahnenschwingen nennt man die Schweizer Flagge «Eidgenoss», oder die Schwinger, welche am Eidgenössischen in die Kränze kommen. Eine Pferderasse wird sogar danach benannt. Jene Vielseitigkeit gefällt mir und die Geschichte. Schliesslich wurzelt meine Musik darin. Stur darf man den Begriff nicht verstehen - eher mit Humor.»

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Viel zu früh legen wir am Rütli an, ich habe noch so viele Fragen. Gemeinsam mit einer amerikanischen Reisegruppe und zwei Schulklassen machen wir uns auf den Weg zur sagenumwobenen Wiese. Die Magie mag sich für mich bei lautem Stimmengewirr jedoch nicht so recht einstellen. Erst als sich die Masse langsam zur Schiffsstation aufmacht und «dr Eidgenoss» seine Fahne zu schwingen beginnt, gefolgt von einem zünftigen «Eidgenossä-Juitz», entfalten sich Ruhe und Schönheit.

Meine Gedanken kreisen: Wie kostbare Tradition bewahren, ohne sich der Welt gegenüber zu verschliessen? Der bodenständige Mann mit Fahne hat seine Antwort bereits gefunden: «Ich pflege meine Nidwaldner Wurzeln. Weil ich weiss, dass Heimat Trumpf ist, lebe ich in Freiheit. Ich erzähle von meinem Land, der Kindheit, den Bergen, der Natur und vom Zusammenleben. Gleichzeitig lasse ich mich gerne auf andere Kulturen ein.» Diese Balance zwischen Tradition und Offenheit klingt in seiner Musik wieder. Von Album zu Album habe er mehr über sich selbst erfahren. Er wisse, wer er sei: « Mein Leben ist wunderschön, das teile ich gerne und bereite den Menschen damit Freude. Ich möchte dazu anregen, tiefer zu gehen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Am Ende muss jeder selbst den Sprung auf die Tellsplatte wagen.» Wir sprinten den steilen Weg hinunter und schaffen es gerade noch auf das Schiff. Der zweite Teil unserer Fahrt beginnt. Zum Glück, denn ich habe noch viele Fragen.
